A year later / Das Jahr Danach

It’s soon two years ago, that I decided to start a process of preparing to die. I documented part of this process in the book “The Year” (https://buchundnetz.com/werke/the-year/).

In this article for a magazine “Spiritual Care” I share the journey beyond “The Year” and where this has taken me.

Das Jahr danach. Spirituelle Selbstsorge  

Mark Moser 

 

Ich hatte alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Die Schmerzwellen rollten ohne bemerkenswerte Pausen auf die Strände meines Lebens. Der Versuch der Ärzte, die Ursache dieser körperlichen, chronischen, entzündungsbasierten Schmerzen zu finden, hatte nur dazu geführt, ‘vermutete’ Diagnosen zu stellen und Therapien durchzuführen, die hauptsächlich symptomatischer Natur waren und nur sehr limitiert in ihrer Wirksamkeit.

Ich war 44 Jahre alt und hatte den Grossteil meines Lebens mit starken körperlichen Schmerzen erlebt. Das ist Teil meiner Geschichte. Ein weiterer Aspekt dieser Geschichte ist der eines wunderbaren Lebens, eingebettet in einer liebevollen Ehe, von umsorgenden, humorvollen und gewinnenden Freunden, die mit mir den Weg gingen, in einem erfüllten, abenteuerreichen und bedeutungsvollen, befriedigenden Berufsleben

Jeden Tag aufzuwachen und in eine Wand starken Schmerzens zu stossen, der konstante Versuch, die Schmerzen in den Griff zu bekommen, und die Nebenwirkungen von Schmerzmitteln zu erdulden, die über mehr als 20 Jahre eingenommen wurden, hatten ihre Spuren hinterlassen, und so sehr ich das Leben auch liebte, ich hatte genug.


Rückblick: Leben mit chronischem Schmerz
Die ersten Symptome meiner Krankheit zeigten sich im Alter von 9 Jahren als ich in einem Internat in Papua Neu Guinea war, wo wir lebten. Geschwollene, entzündete Knöchel und Knie, die stark schmerzten, banden mich ans Bett. Im lokalen Spital machte man mir Einstiche, um Flüssigkeit auslaufen zu lassen, und verschrieb mir täglich achtmal Aspirin. Über die Jahre veränderten sich die Symptome, und ich hatte zwölf Schulteroperationen, um Verkalkungen zu entfernen und gezerrte Muskeln und Bänder wiederherzustellen. Ein Jahr nach den ersten körperlichen Symptomen, erlebte ich körperlichen, sexuellen und religiösen Missbrauch in einem Internat, das von konservativen evangelischen Christen geführt wurde. Dennoch war ich voller Lebensmut. Während meiner Kindheit im wilden Hochland von Papua Neu Guinea, ebenso wie später in der Schweiz, blieb ich körperlich aktiv, betrieb Sport. Ich versuchte, mich auf die gesunden Teile meines Körpers zu konzentrieren. Ich wurde gelehrt, eine aktive Rolle einzunehmen in der Gestaltung des Lebens, das ich wollte. Später realisierte ich dank liebevollen Freunden, dass der Missbrauch seine Spuren hinterlassen hatte, die mich in meinem weiteren Wachstum hinderten. Zwischen 25 und 30 Jahre begab ich mich auf einen Weg der emotionalen Heilung und durchlief eine Trauma- und Psychotherapie. Die Schmerzen blieben. Die Annahme einiger Ärzte, dass ich aufgrund von Missbrauch an psychosomatischen Schmerzen leide, erwies sich als unbegründet.


Ich tauchte ein in mein berufliches Leben, zum Teil auch übertrieben, was ein ungesunder Versuch war, den Lärm des körperlichen Schmerzes auszublenden, indem ich mich auf das konzentrierte, was mir Bedeutung gab und zu einem bestimmten Mass mein Ego fütterte. 

Neue Prioritäten
In den vergangenen Jahren habe ich auf verschiedensten Ebenen daran gearbeitet, meinen Schmerz zu akzeptieren, indem ich ihm die Aufmerksamkeit schenkte, die er braucht. Schmerz ist ein Vermittler einer wichtigen Nachricht. Ich gab mir aber auch vermehrt Raum zu geniessen. Und dennoch, trotz unzähliger Therapien, der Konzentration auf nicht-krankheitsbezogenen Prioritäten, gesunde Beziehungen, Genuss und spannende Arbeit blieb der Schmerzanteil sehr hoch und lebensbestimmend. 


Ich war bei einem halben Dutzend Ärzte, hatte alternative Behandlungen versucht, spezielle Kräuter eingenommen, meine Ernährung umgestellt, mein Arbeitspensum gekürzt und so weiter. Ich hatte kaum noch weitereHandlungsoptionen. Die Intensität und das Ausmaß des Schmerzes veränderten sich nicht wesentlich. Ich war nicht bereit zu weiteren chirurgischen Eingriffen. Nach mehr als einem Dutzend Schulteroperationen und einer Handvoll anderer bin ich zum Schluss gekommen, dass dies nur eine befristete Reparatur ist, die oft zu langfristigem zusätzlichem Schaden führt.

 

Ohne Macht oder Einfluss zu sein, ohnmächtig sein ist ein Zustand, in dem Hoffnung im Exil ist. Und ohne den Sauerstoff der Hoffnung, merkte ich, dass ich eine Möglichkeit benötigte, die ausserhalb dem lag, was das Leben bieten konnte. Der letzte therapeutische Versuch war, hohe Dosierungen von Opiaten ein zu nehmen, um die massiven Schmerzwellen zu dämmen, die oft 24 bis 48 Stunden lang anhielten, und mich in einen Zustand versetzten, in dem ich ans Bett gebunden war, nach Luft keuchend und dem Erbrechen nahe. 

 

Der Weg des Abschieds

In 2017 begann ich eine Reise der Vorbereitung auf den Tod und des Übergangs in ein unbekanntes Gefilde. Dieser Prozess, den ich im Buch “The Year” (Moser 2017) genauer beschreibe, war kostbar und wertvoll. Es stellte sich als herausfordernd heraus, meinen Ängsten ins Gesicht zu schauen, sie zu integrieren, und so schuf ich Inseln für das, was mir wichtig war, für Arbeit, Erholung, Familie und die Vorbereitung auf den Tod. Eine kleine Gemeinschaft von Brüdern eines Klosters beim Thunersee öffnete ihre Herzen und ihr Haus, so dass ich als ‘Bruder auf Zeit’ in Schweigen eintauchen konnte, um mich in die emotionale Aufgabe zu vertiefen, die ich mir vorgenommen hatte. 

 

Als ich die Leiter der Reflexion und Gewissheit hinabstieg, begegnete ich meinen Hoffnungen und Ängsten in Bezug auf meinen Tod. Ich begann, mit ihm und dem Danach nähere Bekanntschaft zu schliessen. Der Prozess des Loslassens von Verpflichtungen, sei es bei der Arbeit oder privat, von Lebenszielen und Absichten, sowie die innere Arbeit, in der ich meinem inneren Ich oder meiner Seele zuhörte und dessen Stimme kräftigte, erlaubten mir eine neue Leichtigkeit des Lebens zu entdecken. Sie entsprang dem vertieftenpersönlichen Glauben, dass das, was nach dem Leben so wie wir es in dieser Welt kennen, mindestens gut, aber wahrscheinlich besser als gut sein wird. In Momenten der inneren Einkehr spürte ich, wie mich die noch-nicht-bekannte Welt lockte und einlud. Sie teilte mir in einer stillen und beruhigenden Weise mit, dass ich gesehen und erwartet werde. Der Tod ist weder ein Monster noch ein Drama. Er ist einschüchternd, da er die Erfahrung absolute Machtlosigkeit und völligen Kontrollverlusts umfasst. Aber nachdem ich meinen Ängsten entgegengetreten war und mit ihnen gerungen hatte, nachdem ich meine versteckten Ego-Antreiber entlarvt hatte und den bekannten Tendenzen entgegengetreten bin, kam eine neue Freiheit zum Vorschein. 


Das Ergebnis des Prozesses war, dass ich bereit war, zu leben oder zu sterben. Ich durchlebte dieses Jahr mit der Bereitschaft, zu akzeptieren, dass dies mein letztes Jahr auf Erden sein könnte oder das erste Jahr eines neuen Lebensabschnittes.  Diese Einstellung zu entwickeln, war eine Herausforderung, nicht nur für mich selbst, aber wahrscheinlich zu einem grossen Teil für mein familiäres Umfeld. Wir hatten uns schon einige Male verabschiedet, als hohe Dosen von Morphin mich an den Rand des Lebens gebracht hatten. Aber ohne gemeinsam erwartete Zukunft, für die wir lebten, entstand eine immer grösser werdende emotionale Distanz, die wir andauernd zu überqueren versuchten, ohne den Bus zu überladen, der über diese Brücke fahren sollte. 

Rückkehr ins Leben

Während einer medizinischen Begutachtung, die ein privater Versicherer verlangte, zeichnete ein Neurologe ein Bild von dem, wie er meine Krankheit und Symptome sah. Er empfahl, dass ich eine multi-modulare stationäre Therapie mit einem bekannten Schmerztherapeuten in einer Schweizer Klinik machen sollte. Ein Ziel war, einen Entzug von den Opiaten zu machen und daran zu arbeiten, stressbedingte Schmerzen zu reduzieren.

Ich entschied mich, den Entzug von verschiedenen starken Medikamenten zu machen, da ich nicht – wie manche glaubten – lebensmüde war. Ich war lediglich erschöpft von mehr als zwanzig Jahren andauerndem und endlosem Schmerz. Aber wenn ich einen Weg finden könnten, um meine Schmerzen auch nur ein wenig zu reduzieren, wäre ich nur zu überglücklich, dem Leben eine weitere Chance zu geben. Und so bewährte sich die Zeit in der Klinik als kostbare Pause, um auszuruhen, intensive Arbeit zu machen und weg von der Klippe zu treten, wo ich den Tod mehr umarmte als das Leben. Natürlich verlangte dies eine Entscheidung und danach viele grosse und kleine Schritte zurück ins Leben. Ich begegnete administrativen Hürden der selbständigen Erwerbstätigkeit, machte mir Gedanken über Gesundheitsvorsorge, plante den Schritt zurück ins soziale Leben mit Freunden und Familie und so weiter. Obwohl ich meinen Entscheid, dem Leben eine weitere Chance zu geben, nicht bezweifelte, gab es viele Momente, in denen ich einen stärkeren Zug und Hang empfand, eher den Tod zu begrüssen als das Leben. Der Tod hatte seinen Stachel verloren und hatte mir mehr versprochen als das Leben. Das Ausmass an Gewissheit, dass ich nach dem Tod keinen Schmerz mehr ertragen müsste, war stärker als der Glaube an Heilung auf dieser Seite des Vorhangs. Dennoch: Dank der Unterstützung der ausgezeichneten Therapeuten und Ärzten in der Klinik machte ich die Medikamentenentzüge und ging mit einem lernenden Geist und Verstand durch die Veränderungen.

 

Die Reise geht weiter

Aus meiner Jahr des Abschieds ist ein weiteres Jahr geworden. Ich lebe im Jetzt, mache nun keine Pläne weiter hinaus als vom Unmittelbaren, und dem Leben eine Chance zu geben.

Die befreiende Realität ist nun aber die Abwesenheit von Angst, die Bereitschaft zum Tod und den Start der wahrscheinlich aufregendsten und wichtigsten Reise von je, jene in eine neue Welt.

 

Mein allgemeiner Gesundheitszustand hat sich verbessert, seit ich aufgehört habe, so viele Medikamente, insbesondere Opiate, einzunehmen. Aber ich muss dadurch einen höheren konstanten Schmerzpegel akzeptieren und meinen Lebensrhythmus deutlich verlangsamen.

 

Gut zu leben, beinhaltet einen bestimmten Grad an Einfluss auf das eigene Leben zu haben, und die Möglichkeit zu haben, sein eigenes Leben zu steuern. Doch es beinhaltet auch die Fähigkeit, mehr als nur überleben zu können. Ist dies eine verwöhnte Haltung einer Person, die auf einem gewissen Niveau an Luxus in einem der reichsten Länder der Welt wohnt? Für so viele Menschen heute und in früheren Zeiten bleibt neben dem Kampf ums Überleben wenig Raum für die Frage nach tieferer Bestimmung des Lebens.

Ich prüfe, was mir das Leben bietet. Nicht, was mir das Leben bieten könnte, falls ich weniger Schmerzen hätte, oder einen erfolgreicheren Weg, damit umzugehen. Erlebe ich genügend Freude in den kleinen Dingen dieses Lebens, dass ich weiterhin mit den Schmerzen, die ich habe, weiterleben will? Ich habe mir sechs Monate gegeben, diese Leben des ‘Betrachtens der kleinen Dinge’ zu leben, bevor ich meine Erfahrungen auswerten und beurteilen möchte. Diese Probezeit ist vergleichbar mit jemandem, der lernt, ohne Stützräder ein Kindervelo zu fahren. Es bedarf eine ausserordentliche Disziplin der Gedanken, um nicht dauernd zu der grossen Frage nach Leben oder Tod zu eilen, besonders während und nach einer starken Schmerzwelle. Annehmen ist Veränderung. Und ich möchte lernen, auf einer tieferen Ebene zu akzeptieren bevor ich die Erfahrung auswerte. 

 

Dies allein zu unternehmen ist keine Option. Ich hätte die Ausdauer und Kraft nicht dazu. Familie und Freunde wissen über diesen Weg Bescheid und unterstützen mich in vielfältiger Weise. Das Wunder dieses Prozesses ist, dass es keinen negativen Ausgang gibt. In einem Szenario finde ich einen Weg, mit einer erträglichen Lebensqualität zu leben. Im anderen Szenario entscheide ich mich, in meinem Seelenleben weiter zu ziehen und über den Ozean, dem Tod vorbei zu schwimmen, in diejenige neue Erfahrung, die uns erwarten mag. Das ist Freiheit. Meine Freiheit.

Literaturangaben:

Moser M (2017), Mit Schmerzen leben, Kölliken: Buch & Netz. 

Moser M (2018), The Year, Kölliken: Buch & Netz.